Volksmusik
und Harmonik von Wolfram Benz, Eglofs, November 2005 Einleitung Über den Begriff Volksmusik ist schon viel geschrieben worden. Auch eine Abgrenzung zur volkstümlichen Musik ist nicht einfach. Hier soll ein erneuter Versuch unternommen werden, die Zusammenhänge zu klären, aber auch die Unterschiede aufzuzeigen. Dabei möchte ich die traditionelle Tanzmusik im Westallgäu seit dem 19. Jahrhundert[1] betrachten, die hier zunächst für den Begriff Volksmusik stehen soll: Ländler, Walzer, Mazurka, Polonaise, Polka, Schottisch und Galopp u.a., aber auch der Marsch. Mit einer Sichtweise möchte ich an sie herangehen, die vielen von uns heute etwas fremd ist. Doch ist sie schon über 2000 Jahre alt, wird mit dem Begriff Harmonik zusammengefasst und ist Forschungsinhalt bis in die Gegenwart geblieben. Was bedeutet Harmonik? „Harmonik (lat.-gr. harmonia, Zusammenfügung, Einklang) - umfassender Begriff für jenen Wesensteil der Musik, der den Zusammenklang, also die vertikale Komponente und damit die Gleichzeitigkeit verschiedener Stimmen kennzeichnet.“[2] So wird zunächst die eine Seite des Begriffs im Internet (Wikipedia) zusammengefasst. Bei der weiteren Bedeutung müssen wir etwas weiter ausholen. Die Erkenntnis des mathematischen Zusammenhangs von Saitenlänge und Ton verdanken wir schon den Griechen, besonders Pythagoras, der uns als Mathematiker von der Schule her wohl noch bekannt ist. Er forschte an einem einfachen Instrument, dem Monochord, und fand folgenden Zusammenhang:"Monochord" mit mehreren Saiten - Spezialanfertigung der Klangwerkstatt Markt Wald, im Musikmuseum in Eglofs Bei einer Verkürzung der Saitenlänge auf die Hälfte ertönt die Oktave. Physikalisch bedeutet das eine Verdoppelung der Schwingungszahl (Frequenz = Schwingungen je Sekunde). Man spricht dabei vom ersten Ober- oder Naturton. Verkürzt man die Ursprungssaite auf ein Drittel, so erklingt die Quinte, der 2. Oberton. Die Frequenz beträgt das Dreifache. Bei einem Viertel der Saite erklingt wieder - die Hälfte der Oktave - der Grundton in der nächsten Oktave. Bei einem Fünftel erklingt die Terz über der Oktave, bei 1/6 - was wieder die Hälfte von 1/3 ist - ist wieder ein hohes g'' zu hören, usw. (s. Grafik). Alle Blechbläser kennen dieses Naturtonphänomen: ohne Ventile lassen sich bei Blechblasinstrumenten nur bestimmte Töne, die "Naturtöne", blasen, meist nur C, g, c, e, g ... (s.o., wobei der tiefe Grundton – hier als C angenommen - kaum angeblasen werden kann). Dabei ist die schwingende Luftsäule im Instrument wie eine Saite zu betrachten. Eine Blockflöte "überbläst" in der Oktave, eine Klarinette mit der Quint über der Oktave. Auch hier sind zahlenmäßige Zusammenhänge zu erkennen. Diese Naturtonreihe spielt bei der individuellen Tonfärbung der verschiedenen Instrumente einmal eine wichtige Rolle, da immer zur eigentlichen Haupttonfrequenz noch diese Obertöne mehr oder weniger mitschwingen und mitklingen[3]. Hier soll allerdings eine weitere Eigenschaft interessieren, was am deutlichsten wird, wenn wir neben der einzelnen Saite, die verkürzt wird, eine zweite, vorher gleichgestimmte, mitschwingen lassen. Die Oktave (1/2) ist im Zusammenhang mit dem Grundton kaum mehr zu unterscheiden. Sie erzeugt den besten Zusammenklang, die beste Konsonanz. Die Quinte (2/3) klingt etwas weniger konsonant, die Quarte (3/4) noch weniger. Die große und die kleine Terz wurden Jahrhunderte lang als unschön empfunden (=dissonant), klingen mit dem Grundton zusammen aber für unsere heutigen Ohren immer noch relativ konsonant oder harmonisch. Übersicht über harmonische Intervalle
Mathematisch gesehen nimmt also die Klangharmonie
immer weiter ab, je größer die Bruchzahlen im Nenner werden. Zu den
harmonischen Klängen zählen auch noch die Brüche: 3/5 = große Sexte
und gerade noch 5/8 = kleine Sexte. Treten andere Saitenlängen auf, z. B.
1/9 oder Mehrfache davon (z.B. 2/9),
so klingt dieser Ton dissonant im Zusammenklang mit dem Grundton.
Kleine Septime (5/9), große Sekunde (8/9), große Septime (8/15), kleine
Sekunde (15/16) zählen somit zu den dissonanten Klängen. Der Tritonus,
die Mitte der Oktave, dargestellt durch den Bruch 32/45, wird wegen seine
Missklangs diabolus in musica, der Teufel in der Musik,
genannt. Mit diesen Verhältnissen der ersten unserer ganzen
Zahlen zueinander befasst sich die harmonikale Forschung weit über die
Musik hinaus[5].
Mathematische Proportionen haben wie in der Musik damit gleichzeitig eine
emotionale Entsprechung – die Quantität enthält die Qualität. Sie
erscheinen in der weiteren Natur bis hin zu den Planetenbahnen, aber auch
in der organischen Natur. Wir
werden uns allerdings dieser Zahlenproportionen nur selten bewusst, wenn
wir in den Kristallen oder draußen im Weltall, auch in den Blüten der
Pflanzen, ebenso in der Malerei oder Architektur etwas schön oder
harmonisch finden. Zahlenverhältnisse in der Volksmusik Melodieaufbau: Die achttaktige Melodie bildet das Grundmuster traditioneller Tanzmusik, die wiederum meist folgendermaßen aufgebaut ist. Harmonikal bedeutet eine Verdoppelung von zwei
(Takten) auf vier eine Oktavierung, wie wenn eine Saite verdoppelt würde.
Auch die weitere Verdoppelung auf 8 ist entsprechend harmonisch. Nach
dieser Ordnung der Takte sind im Wesentlichen die traditionellen
Tanzmusikstücke gebaut. Ein Walzer mit 16 Takten ist harmonikal gesehen
nur eine Oktave zum Achttakter, eine Verdoppelung auf 32 ist damit auch
rational erklärbar und ebenso emotional harmonisch erlebbar. Beim mehrstimmigen Spiel werden zum Grundbass
jeweils auch nur die zum wohlklingenden Akkord gehörenden Quarten und
Quinten mit der Terz verwendet: Tonika, Tonika, Dominant und Tonika im
Vordersatz sind hier die harmonischen Grundlagen mit Wiederholung der
gleichen Kadenz im Nachsatz. Allerdings enthält der häufig gespielte
Dominantseptakkord vor dem Schluss eine Dissonanz, die kleine Septime
(5/9), die nach Auflösung im Schlussakkord drängt. Auch ein
Subdominantakkord enthält die harmonischen Töne des Dreiklangs. Der Rhythmus Harmonikal gesehen ist ein Dreiertakt weniger „konsonant“ als ein gerader Takt, was auch bei der Tanzmusik von den Tanzenden direkt zu spüren ist. Erstaunlich ist, dass die früheren Tanzmusiksammlungen mehr Ländler, Mazurkas und Polonaisen verzeichneten als geradtaktige Polkas, Schottische oder Galopp, während heute stärker bei der allgemeinen Tanzmusik der hämmernde, gerade Takt dominiert. Die Tendenz strebt heute zum „harmonischeren“ geraden Takt. Das könnte den Übergang eines Auftanzes bei Volkstanzveranstaltungen von der Polonaise zu den Märschen erklären. Ein Zwiefacher dagegen ist als taktwechselnder Tanz nur von geübten Musikanten und Tänzern zu bewältigen und hat sich deshalb nur in wenigen Regionen durchgesetzt, wie auch der 5/8-Takt oder komplexere Taktarten in der weiteren Volksmusik recht selten sind. Das Volkslied Harmonisch liegt das deutsche Volkslied sehr ähnlich wie die Tanzmelodie mit sehr hohem Prozentsatz in Dur mit den genannten Kadenzen der Tonika, Dominante und Subdominante. Geprägt wird das Volkslied ebenfalls vom periodischen Aufbau. Damit zeigt sich strukturell, was die Taktzahlen betrifft, eine Dominanz der Viererzahlen. Kaum ein Lied ist kürzer als 8 Takte. Seltener ist der 12-Takter. Sehr häufig sind es 16 Takte, So kann der erste Viertakter wiederholt werden zunächst mit Halbschluss, dann mit Ganzschluss, der zweite wird als Achttakter ausgeschrieben oder umgekehrt. Hier gibt es wesentlich mehr Varianten als bei der reinen Tanzmusik, schließlich hat sich die Melodie auch nach dem Text zu richten. Trotzdem gelten beim Volkslied wieder die harmonikale Grundstrukturen. Abweichungen Tonleitern aus der Obertonreihe[9] werden der natürlichen Stimmung zugerechnet oder auch harmonische Stimmung genannt. Der Zusammenklang dieser Töne wird besonders harmonisch empfunden, jedoch nur wenn in der Grundtonart geblieben wird. Werden bei der siebenstufigen Skala weitere Halbtöne zwischen die Ganztöne geschoben, um auch in andere Tonarten wechseln zu können, müssen die genauen, ganzzahligen Verhältnisse verändert werden. So gelangte man über die temperierte Stimmung[10] zur gleichstufigen Stimmung unserer heutigen Zeit[11]. Lauten und Gitarren hatten bei der Bundeinteilung schon sich dieser gleichstufigen Stimmung angenähert. Während man bei der temperierten Stimmung noch Unterschiede bei den Klängen verschiedener Tonarten unterscheiden und ihnen auch bestimmte Qualitäten zuordnen konnte, ist das bei unserer heutigen mathematisch genauen Einteilung der Stimmung kaum mehr möglich. Erstaunlich, dass unser Gehör diese feine Veränderung registriert. Aber wir haben uns allgemein an die heutigen Klänge gewöhnt. Trotzdem spüren wir bei einer guten Streicher- oder Bläsergruppe den harmonischen Klang, wenn sie sich den natürlichen Intervallen und Klängen, d.h. den ganzzahligen Proportionen wieder unbewusst nähern. Andererseits empfinden wir ein längeres Musizieren mit natürlichen Klängen als steril und langweilig. Diese dominieren bei der volkstümlichen Musik[12], meist erzeugt von Synthesizern und Akkordeon[13]. Wer Volksmusik erleben will, kann das nur bedingt mit Wiedergaben von Tonträgern. So schrieb schon Hoerburger[14] über Tanzmusik: „Zunächst erschöpfen sich instrumentale Volksmelodien nicht in einem nackten Auf und Ab der Hauptmelodietöne. Alles ist einem bunten Verzierungswesen unterworfen ..., vorausgesetzt, dass diese Musik nicht der Verfeinerung der Volksmusikpflege unterliegt.“ Keine Wiederholung auf dem Tanzboden gleicht der vorherigen Melodie. Stets wird variiert bei der Tongebung und bei der Tonfolge. „Diese Unschärfe von Gestalten und Darstellungsweisen ist symptomatisch. Sie ist keineswegs die Folge des Unvermögens, sondern ein Grad von Vergröberung dessen, was „Beseelung“ des starren Notenbildes ja auch in der Kunstmusik bekannt ist.“ Hoerburger spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „schmutzigen Spiel“ wie beim Jazz. Diese „schmutzige“ Spielweise gilt stärker für die Wiedergabe von Tanzmelodien, die zum Tanzen aufreizen sollen, eine „beseelende“ eher bei besinnlicher Stubenmusik oder bei geistlicher Musik. Betrachten wir dazu den Rhythmus einer Tanzmusik bei einer geradtaktigen Polka, so weicht er von den genauen Schlägen eines Metronoms ab, so wie ein Ländler oder ein Walzer nicht genau metrisch ausgezählt wird, sondern den typischen „lüpfigen“ (schweizerisch) Rhythmus ausformt. Beim Singen von Volksliedern ist ebenso eine freie rhythmische und dynamische Gestaltung wichtiges Merkmal, während bei Rundfunkaufnahmen oder anderen Tonträgern durch die harmonische Vereinheitlichung im meist sterilen Dreiklang das lebendige offene Singen verloren geht. Zusammenfassung und Ausblick Hier gilt nicht nur „Ausnahmen bestätigen die Regel“, sondern die Regel gilt für den Bereich der Volksmusik mit dem Volkslied: Gerade bei einer so stark harmonikal bestimmten Strukturierung leben Tanzmusik und Lied erst richtig aus der freien, individuellen Interpretation durch die Ausübenden. Je weiter sie sich allerdings von den harmonikalen Grundstrukturen entfernen, desto mehr verlieren sie auch den Kontakt zu den anderen Menschen, die diese Musik erreichen möchte. Das gilt wohl auch für die Experimente von versierten Musikern, bei denen sich die Volksmusik in neue Bereiche klanglich und rhythmisch hinaus bewegt. Je mehr großzahlige Brüche aber, d.h. Dissonanzen, und je stärker die aufgezeigten Formen zerstört werden, desto weniger wird beim Aufnehmenden ankommen. Das gilt auch für die anderen Künste. Zwar haben wir den historischen Beweis, dass differenziertes Musikhören und Kunsterleben gelernt werden kann, doch erleben wir, dass die Sehnsucht nach der Harmonik bleibt. (vorliegender Aufsatz wurde 2005 publiziert in SINGT UND SPIELT, Schweizer Blätter für klingende Volkskunde, Zürich, 72. Jahrgang Heft 4/5 - hier etwas verändert) [1]
Über 30 000 Musikstücke regionaler Tradition bilden dazu die Basis
im Allgäu-Schwäbischen Musikarchiv in Eglofs im Westallgäu |