Die Intervall-Chiffren-Schrift 
des Hermann von Altshausen

 von Wolfram Benz

in: "Hermann der Lahme", Graf von Altshausen(1013 - 1054)
Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg, 1996
  
 

Hermanns "Notenschrift", wie seine Notationsmethode vielfach genannt wird, ist Teil seiner musiktheoretischen Arbeit "Musica". Sie kann am besten aus der damaligen Musizierpraxis erläutert werden. Melodien wurden im Mittelalter in erster Linie auswendig gelernt. Wir können uns diese Gedächtnisleistung heute kaum mehr vorstellen. Als Erinnerungshilfe dazu benutzte man Neumen, Zeichen, die mehr oder weniger das Auf und Ab der Melodie anzeigten. Dazu hatte fast jedes Kloster seine eigene Schreibweise. Ein Austausch schriftlich festgelegter, unbekannter Melodien war somit kaum möglich.

    
Neumen des Mittelalters
(Ausschnitt aus Riemanns Übersicht)
Man unterschied bei den Neumen allgemein zwei Richtungen. Die adiastematischen Zeichen, die in einer Linie blieben, drückten stärker den Rhythmus, die Ornamentik und den Vortrag aus, während die diastematischen Neumen mehr die Intervalle, d.h. die Größe der Tonschritte, andeuten sollten. Dazu wurden diese stärker in Zickzackform notiert, um das Ansteigen oder Fallen des Tones anzuzeigen.

Daneben gab es auch die Daseianotation, die in Anlehnung an antike Vorbilder in komplizierter Form Intervalle genauer anzugeben vermochte, je nachdem die Zeichen nach links oder rechts gewendet oder auf dem Kopf stehend dargestellt wurden.

 
Die Daseianotation
 
Hermanns Ansatz bestand nun darin, die Intervallschritte ganz einfach mit Buchstaben festzulegen. Um dies an Beispielen zu erklären, erfand Hermann Verse, die das betreffende Intervall gleich am Anfang herausstellen:
e voces unisonas aequat Gleichklang (gleicher Ton)
s semitonii distantiam signat Halbton ("bezeichnet den Abstand des Halbtons") 
t toni differentiam tonat Ganzton
ts semiditonium statuit kleine Terz (Ganz- + Halbton)
tt  duplicata ditonum titulat große Terz (zwei Ganztöne)
d diatesseron symphoniam denotat Quarte ("durch vier" - "Zusammenklang")
(Delta) diapente consonantiam discriminat Quinte ("durch fünf" - "Zusammenklang") 
(Delta)s bina cum tritono limmata docet kleine Sext
(Delta)t quaterna cum limmate tonos -
maximum videlicet in cantilenis 
 nostris phtongorum intervallum 
 determinat 
große Sext 

 Hermanns Intervallschrift mit seinen erklärenden Versen und mit einer Übertragung in die  heutige Notation  
Dazu wird in den letzten beiden Versen erklärt, dass Punkte unter dem Intervallbuchstaben  (cum punctis...) einen Abstieg bedeutet, das Fehlen (sine punctis) einen Aufstieg.

Diese geniale Vereinfachung braucht nur noch den absoluten Anfangston, der im angeführten Beispiel ein "G" ist. Das Singen nach den Intervallbuchstaben gestaltet sich dann einfacher als nach der heutigen Notation auf Linien. Man muß dabei eben nicht auch noch die Vorzeichen mit einbeziehen. Unterschiedliche Tonlängen können mit den Buchstaben allerdings nicht angezeigt werden, und sollte einmal ein Intervall nicht richtig getroffen werden, so folgen die weiteren Tonschritte etwas höher oder tiefer "transponiert" je nach Größe des Fehlers.

Leider kann nur wenig Erfolg dieser Methode Hermanns im westlichen Abendland bescheinigt werden. Eine direkte Weiterentwicklung bestand zwar darin, daß seine Intervallbuchstaben auch noch höher und tiefer wie in der Liniennotation gesetzt wurden. Schicksalhaft erscheint es, daß fast gleichzeitig und ohne von einander zu wissen, ein anderer, der Italiener Guido von Arezzo (um 1000 - 1050) auf eine andere Notation setzte und - sozusagen - gewann. Er war es, der die bereits existierenden Ansätze zu einer Darstellung von Noten im Terzabstand auf und zwischen Linien weiterentwickelte, aus der schließlich unser heutiges Notenbild entstand.

Die Frage nach der Anregung zu dieser so alleinstehenden Methode der Intervallschrift Hermanns läßt den Schluß zu, daß Hermann wohl von der byzantinischen Notation gewußt haben muß. Dort ist dieses Prinzip der reinen Intervallschrift mit Abwandlungen seit dem 10. Jahrhundert bis auf den heutigen Tag in der griechischen Kirche und in den sonstigen orthodoxen Kirchen gebräuchlich. 


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