Wolfram Benz
"Jetzt wolln mir eins singen"
Handschriftliche Liedersammlung aus Happareute im Westallgäu von 1845, 1879
und 1914

(veröffentlicht in: Volksmusik in Bayern, Mitteilungsblatt der Volksmusikberatungsstellen
des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V, Heft 4, München 1997)

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Teil 1
Von der Geschichte eines großen Fundes
Im Allgäu-Schwäbischen Musikarchiv des Geschichts- und Heimatvereins in Eglofs1 mehren sich erfreulicherweise in den letzten Jahren die Schätze vergangener Musikkultur unserer Westallgäuer Landschaft. Einen großen Anteil daran haben die Noten der Blaskapellen, die aus dem 19. Jahrhundert in erster Linie in handschriftlicher Form vorliegen. Aus ihnen können viele kleine Musikgruppen heute ihre Stücke entnehmen, die zum Tanz wie früher oder zur Unterhaltung von den verschiedenen Stubenmusikgruppen oder kleinen Bläserbesetzungen wieder gespielt werden. Daneben finden sich in Sängerfamilien oder auf Flohmärkten alte, gedruckte Liederbücher. Sie stellen aber im Liedgut jeweils eine besondere Auswahl dar, die auf die Bedürfnisse eines Chores oder von Schulen zugeschnitten wurde. Sehr viel seltener werden Lieder in handschriftlicher Form entdeckt, in der sie als Gedächtnisstütze für das Singen zu Hause oder im kleinen Kreis verwendet wurden. Solche Liedaufzeichnungen geben uns heute eher einen Überblick über das wirklich vom Volke gesungene Liedgut. Aus unserem Jahrhundert liegen bereits mehrere solcher Sammlungen vor, und sie enthalten auch Lieder, die der meist idealistischen, moralischen oder politischen Zensur bei üblichen Volksliedsammlungen in gedruckter Form zum Opfer fielen. Was bei den Hoschtuben, dem geselligen Beisammensein, im letzten Jahrhundert im Westallgäu allerdings nun wirklich gesungen wurde, blieb bisher unbekannt. Sollte nun der Hinweis von Kathi Maurus aus Röthenbach (Schmalenberg an der Argen) auf solche handschriftliche alte Liederbücher wirklich dieser Glücksfall sein? Wie oft hatte man schon Andeutungen über Bücher und Quellen gemacht, die sich bei genauer Untersuchung als Duplikate von Bekanntem herausstellten. Aber bei der ersten Durchsicht der angefertigten Kopien kündigte sich ein großer Glückstreffer an, der sich noch vergrößerte, als der Bewahrer dieser Sammlung, Martin Mader aus Happareute, aufgesucht werden konnte. Ich durfte dabei eine Persönlichkeit kennenlernen, die sich als aktiver Musikant und Sänger schon einen Namen gemacht hatte und aus dieser Musik die entscheidende Kraft für sein Leben gewinnen konnte. So manches Lied sang er im Juni 1995 fast noch auswendig vor und begleitete es auf seiner Handharmonika, obwohl er damals schon fast 92 Jahre alt war. Martin Mader , der am 8.12.1903 geboren wurde, verstarb am 20. Februar 1996.




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Martin Mader im Juni 1995

Die Sammlung umfasst drei abgegriffene Handschriften. Die älteste mit 70 Liedern trägt den Titel: Gesang-Buch für Kolb Kristian und Joseph Mader von Happareiten d. 12. April 1845. Es ist damit älter als als die erste Publikation Schwäbische Volkslieder durchErnst Maier 1855.2  Das zweite ist das Liederbuch für Martin Mader in Happenreute 1879 mit 50 Liedern. Das dritte gab mir die Schwiegertochter von Martin Mader erst, als ich nach seinem Tode wieder einen Besuch machte, um die erstgenannten Bücher von einer Ausstellung zurückzubringen. Sie meinte dazu, dass dieses Buch erst jetzt im Schlafzimmer ihres Schwiegervaters aufgetaucht sei. Nach der Durchsicht hatte ich eine Erklärung dafür. Vielleicht hatte sich Martin Mader etwas geniert, mir diese Sammlung zu übergeben. Das Heft mit 53 Liedern und 115 "Ränzla" (=Schnadahüpfel) enthält nämlich auch einige recht derbe Lieder bzw. Vierzeiler.
Manche der Lieder sind in den Handschriften doppelt und dreifach aufgeführt. In der Mitte des 3. Buches befindet sich die Jahreszahl 1914. Es ist anzunehmen, dass nicht alle Lieder im gleichen Jahr aufgeschrieben wurden, weshalb die Datiertung der Lieder vom "Eröffnungsjahr" der Handschrift ab etwas später angenommen werden kann, bzw. beim dritten Buch früher und später.


Allgemeine Übersicht - Liedgattungen
 
Das heute gängige Bild von sentimentalen Heimat- und Liebesliedern im Zusammenhang mit "Volksmusik" wird bei einem ersten Überblick schon etwas erschüttert, wenn festgestellt werden kann, wie das Volkslied damals doch eine erstaunliche Breite des Denkens und Fühlens umfaßte. Zwar steht das Liebeslied wie heute beim Schlager an erster Stelle, doch nehmen die ernsteren Gedanken zum Leben daneben einen erstaunlich breiten Raum ein. Auch die Scherzlieder waren mit den Heimatliedern recht beliebt. Und es lohnt sich, einzelne Beispiele aus den verschiedenen Bereichen genauer vorzustellen.
Das historische, politische Lied, Soldaten- und Kriegslieder
Es ist uns kaum noch bewusst, dass dieser Bereich früher einen solch breiten Raum eingenommen hat. Am bekanntesten dürfte noch folgendes Lied sein: Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten - so kennt man das Lied aus der Zeit der aufkommenden Freiheitsbewegung vom Ende des Absolutismus im 18. Jahrhundert. Der Inhalt des Textes war schon bei Walther von der Vogelweide um 1200 bekannt. Andererseits war das Bürgertum Mitte des 19. Jahrhunderts empfänglich für den aufkeimenden Nationalismus, der sich in Vorstellungen von einem starken Deutschen Reich im Zeitalter des Imperialismus immer mehr durchzusetzen begann. Die vielen Soldatenlieder berichten davon in einer deutlichen Sprache:
Als Deutschland wollte einig sein,
da sagte der Franzose nein.
Du lieber Deutscher, komm zu mir,
ich nehm dir dann den Rhein dafür. - Hurra!
Die Antwort gab im Siegerfeld das deutsche Heer...
Da hat uns Blut und Mut vereint.
Frankreich hat den Krieg erklärt....3
Aus dem nächsten Lied erzählt die 2. Strophe mehr vom Krieg 1870/71 gegen Frankreich:
In Metz in dieser großen Schlacht,
da hat's drei Tag und Nacht gekracht.
Der Sieg, der blieb in deutscher Hand,
Franzosen sind alle in Festungen gerannt4.
Nur wenige Lieder beschreiben das Leid eines Krieges:
Und als die Schlacht bei Sedan war vorüber,
sah man des Nachts bei hellem Mondenschein,
verwundete Krieger trug man auf und nieder,
Sterbende kann man noch ächzen hören.

Und als man die Leichen trug zusammen,
bewegte sich ein junger Jägersmann.
Er schrie um Hilfe, der Arzt kommt schnell gegangen.
Man brachte ihn an einen andern Ort.

Nachdem man ihn verbunden und versorgt und er die Augen wieder aufgeschlagen hat, spricht er mit leiser Stimme:
...denn der Herr ruft mich, da hilft kein Widerstreben,
bis an mein End bleib ich meinem König treu5.
Das Sterben für Volk und Führer, wie es später die Propaganda im 3. Reich aufgriff, hat wohl seine Wurzeln auch in in solchen nationalistischen Liedern gehabt. Ähnlich sah es mit der Ausgrenzung anderer Minderheiten aus:
A Jud zu einem Bauern kam,
ein Pferd zu kaufen trat er an.
Das Pferd, das war schon längst verkauft,
 da war der Jude angeblauscht.
J, geh nur eine in Stall und betracht den Gaul überall.
Aber finster war die Nacht, und der Jud, der denkt:
Gott, wie mager, Gott wie mager, ja, o ja ,o ja, o ja6.
Unter der Überschrift Ein gefangener Turkos 1870, wohl ein Algerier oder Marokkaner, der auf der Seite der Franzosen gekämpft hatte, lesen wir:
Seh ich aus als wie ein Teufel,
alles möcht sich fürchten vor mir.
Ja, ich sag es ohne Zeifel,
man möchte fürchten sich vor mir.
Ich hasse jetzt alle Deutschen,
weil sie uns gar so peitschen....
...weil wir als wie die Affen
und die Wilden sehen aus....7
Es wäre sicher verfehlt, aus diesen Texten auf eine besondere nationalistische Tendenz im Allgäu zu schließen. Denn Umschlagplätze für diese Art von Liedern waren die Garnisonen beim Militärdienst, aus denen sie ihren Weg in die Liederbücher nahmen. Aus den späteren Wahlergebnissen Ende der Weimarer Zeit kann entnommen werden, dass die ähnlichen Parolen der Nationalsozialisten im Allgäu auf wenig
fruchtbaren Boden gefallen waren, sonst hätte sich die Bevölkerung nicht so stark für die christliche Zentrumspartei ausgesprochen.
weiter Teil 2

Fußnoten:
1 Benz, Wolfram: Das Allgäu-Schwäbische Musikarchiv des Geschichts- und Heimatvereins Eglofs, in: Volksmusik in Bayern,
Bayerischer Landesverein für Heimatpflege, München 1992, S. 49-58

2 G. Reimer, Berlin, 1855; Reprint J. Schweier, Kirchheim 1977
3 Buch I (1845), Nr. 41
4 Buch  II (1879), Nr. 42
5 Buch II, Nr. 27
6 Buch II, Nr. 41
7 Buch I, Nr. 50 und II, Nr. 49 mit veränderter Fassung

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