Ein Notenfund aus Happareute/Röthenbach im Westallgäu 

in: Volksmusik in Bayern. Mitteilungsblatt der Volksmusikberatungsstellen des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e.V., 16. Jahrg., Heft 2, München 1999 (verändert)
 
Von einem der seltenen Momente im Leben eines Notensammlers konnte ich schon 1997 berichten.1 Und ich hatte es fast schon vergessen, dass mir Martin Mader aus Happareute - nur 3 km von meiner Wohnung entfernt - in unseren Gesprächen erzählt hatte, noch Noten zu besitzen. Ein Sammler weiß aber auch, dass sich ältere Leute nicht gerne drängen lassen. So verstarb Martin Mader.Ich war dann schon überrascht, ein weiteres handschriftliches Liederbuch zu erhalten, das seine Schwiegertochter in einem  Kleiderschrank noch gefunden hatte.

Ein Anruf im Frühjahr 1998 von Schwiegertochter Mader gab mir zu verstehen, dass sie nun noch weitere Notenbücher in einer Truhe auf dem Dachboden, versteckt unter Kleidern, gefunden habe. Und es verhielt sich wieder sehr ähnlich wie mit den Liederbüchern: Der Notenfund erwies sich als ein wichtiger Beleg für die Musikkultur vor etwa 100 Jahren.

Bei meiner Suche nach der Vereinschronik der Musikkapelle Röthenbach konnte ich Albert Martin, den früheren Vorstand und Dirigenten (von 1967-1986), kennen lernen, der selbst seit 1952 in der Kapelle Posaune gespielt, viele Jungmusikanten ausgebildet und sich viele Jahre lang bei Tanzkapellen als Akkordeonspieler einen Namen gemacht hatte. Mit seinen zusätzlichen drei wertvollen alten Handschriften konnte die Statistik zur Röthenbacher Musik weiter ergänzt werden. Zwei davon gehören direkt zur Röthenbacher Kapelle, ein anderes stammt aus dem Nachbarort Heimenkirch.

Nachdem die bisher umfangreichste Notensammlung in unserem Archiv aus Bergatreute statistisch erfasst wurde3, könnte es in einem Vergleich recht interessant sein, wie weit sich dieses Musikleben von Röthenbach, einem kleinen Allgäudorf im Westallgäu, von dem großen Bauerndorf Bergatreute in Oberschwaben unterscheiden lässt. Röthenbach ist ein Dorf mit rund 1800 Einwohnern, die zerstreut in 17 Weilern wohnen und die sich in der Grünlandwirtschaft dicht vor der Nagelfluhkette der Allgäuer Alpen um Milch und Käse sorgen. Bergatreute dagegen ist ein stattliches Dorf mit rund 3000 Einwohnern, stärker geprägt von Handwerk und Handel als von der Landwirtschaft, zwischen den Städten Bad Wurzach und Weingarten.

Aus der Geschichte der Röthenbacher Kapelle

Spärlich sind die Aufzeichnungen der Festbücher jeweils zu den Jubiläen 1965 und 1900 zur Chronik der ersten 50 Jahre nach der Gründung der "ersten Harmoniemusik"4 im Jahre 1840. Als treibende Kraft gilt gerade Josef Mader von Happareute, der uns schon von den Liedersammlungen her bekannt ist.5

Dieses Jahr 1840 kann nun nicht als Neuanfang gewertet werden, sondern ist sicher auch wie an anderen Orten nur eine Erwähnung in einem Schriftstück, nachdem Streicher, Holz- und Blechbläser in der Kirche schon lange ihre Aufgabe zur Mitgestaltung der Gottesdienste gehabt hatten. Im Zuge der allgemeinen Demokratisierung im 19. Jahrhundert vollzog sich eine Loslösung von der Kirche, bei der sich die Musikgruppen wie auch die Chöre zu einer Organisation in Vereinen formierten. "Sicher ist jedoch, daß der Hauptzweck der Musikkapelle die Verschönerung der Gottesdienste und Feste der Gemeinde war." - "Weiter wiederkehrende Anlässe im Dorfleben, wie Jubiläen, Hochzeiten und Beerdigungen haben die Musikkapelle die Jahre über zum Ausrücken veranlaßt." So erfahren wir aus der Vereinschronik. Wir werden noch sehen, dass die vorliegenden Noten hier noch einige wichtige Seiten der Musikkultur von Röthenbach ergänzen können.

Als bedeutende Persönlichkeit unter den Musikern kann Benedikt Mader (1912-1961) gelten. Er war von 1939 bis 1947 Vorstand der Musikkapelle und führte von 1950 bis 1954 den Dirigentenstab. Als Militärmusiker war er bestens mit den Instrumenten vertraut und hatte sich besonders um die Ausbildung junger Musikanten bemüht. Ihm ist es wohl auch zu verdanken, dass die Notenschätze vor der sonst üblichen "Säuberung" bewahrt wurden.

Familienmusik Mader aus Happareute, um 1930; v.l. (so weit bekannt): Martin Mader sen.
(Flügelhorn), Bendikt Mader (Klarinette), Martin Mader jun. (Knopfakkordeon).

Seltsamerweise ist von der Art der Musik mit den dargestellten Instrumenten der oben abgebildeten Familienmusik weniger bekannt. Die Gitarre spielte neben der Mandoline und den bekannteren Instrumenten Flügelhorn, Akkordeon (mit Martin Mader) und Kontrabass eine wichtige Rolle, zu der die Zither oft ebenfalls gehörte. Benedikt Mader, der Bruder des Akkordeonspielers, hält seine Klarinette in der Hand, während sein Vater, Martin Mader sen., ein Flügelhorn haltend, wohl Leiter der Gruppe war.

Statistik
   
Musikstücke Happareute Bergatreute
Gesamtzahl 2283 5298
Ländler 768 892
Walzer  338 1071
Mazurka 67 144
Polonaise 22 59
Polka 95 382
Schottisch 19 142
Galopp 56 374
Marsch 446 688
Potpourri 22 44
Sonstige 450 1502


Häufigkeit einzelner Musikstücke in Handschriften aus Happareute und Bergatreute

134 laufende Nummern sind nun im Computer des Allgäu-Schwäbischen Musikarchivs verzeichnet, bestehend aus 2283 Musikstücken in 1006 Büchern, Heften oder als Einzelstimmen.7 Eine vierstimmige Liederhandschrift für Männerchor in vier Bänden ist ein Beispiel für das Chorwesen in Röthenbach Mitte des 19. Jahrhunderts, auf das hier nicht eingegangen wird. 

In den beiden Kreisdiagrammen sind alle weltlichen Musikstücke zusammen genommen. Bei der Sammlung in Bergatreute reichen die Belege bis um 1830 zurück. Es fällt gleich ins Auge, dass der Ländler in Röthenbach bevorzugt wurde, während die bürgerliche Gemeinde Bergatreute bei Tanz- und Unterhaltungsmusik schon mehr der Walzermode der Städte nacheiferte.
  

 

Vergleicht man den Anteil der Tanzmusik gegenüber den Vortragsstücken im Konzert, so ist in Happareute - vielleicht auch durch einen besonderen Zufall - mehr von den Tanzstücken aufzufinden gewesen.

Tanzmusik

Unsere Notensammlung belegt zunächst einmal die Bedeutung der Tanzmusik neben der großen Blasmusik gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In Chroniken von Musikkapellen ist davon meist nicht die Rede, doch spielten die kleinen Tanzmusikkgruppen bei Fastnacht, Hochzeiten und Kirchweihfesten eine erhebliche Rolle.8

Mit der Tanzmusik, die uns teils in ein- oder zweistimmigen Heften überliefert ist, kann nun auch in einem Längsschnitt die Entwicklung und Veränderung dieser Musik aufgezeigt werden.

Sind in frühen Notenheften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Ländler dominierend in ungeheurer melodischer Vielfalt bei der einfachen Kadenz des Achttakters,9 so ist in Röthenbach um die Jahrhundertwende kaum noch ein Ländler im Repertoire der Tanzmusiker zu entdecken. Die umfangreiche Sammlung der Tänze um 1870 aus Heimenkirch10 bestätigt diese Entwicklung. In Röthenbach stand damit um die Jahrhundertwende der Walzer nun an oberster Stelle, wie andernorts auch.11  Ihm folgten in der Beliebtheit: Galopp, Mazurka, Polka und Schottisch. Eine Polonaise fehlt hier, die sonst überall eine Rolle als Auftanz spielte. Dafür ist eine Quadrille festgehalten, die wahrscheinlich zur Francaise gespielt wurde, die in einem Liederbuch von Martin Mader beschrieben wurde. Hier ist daneben zum ersten und bisher einzigen Mal der handschriftliche Nachweis von Zwiefachen im West-Allgäu13, die wie die "Schuhplattler" im gleichen Buch festgehalten sind.1 In Bergatreute sind dagegen die Ländler schon etwa 20 - 30 Jahre vorher aus den handschriftlichen Notenaufzeichnungen der Musikanten verschwunden.

Sachs-Zwiefacher aus einer Handschrift aus Happareute

 

 

 


 

Anmerkung zur Notation:
eine Viertelnote im 3/4-Takt
entspricht einer Achtelnote 
im 2/4-Takt.

Die Besetzung der Tanzmusik ergab sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus den Instrumenten der Kirchenmusik, wie das aus Bergatreute nachzuweisen ist: Geige, Klarinette, Nachschlag durch zwei Hörner und Kontrabass (auch Fagott). Eine Handschrift aus Röthenbach/Happareute15 um 1890 mit teilweise ausgeschriebener erster und zweiter Stimme zeigt, dass die lautere Blechbesetzung bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Tanzboden wie im Konzert vorherrschte. Um 1900 kam über die große Blasmusik das "Holz" wieder zur Tanzmusik. Dann spielte eine fünfstimmige Blasmusik in folgender Besetzung zum Tanze auf: Clarinet in Es, Tromba (Trompete) in hoch C et B, Tromba F Althorn, Bombardon.16

Die einfachen 8-Takter der früheren Zeit, die von den Musikanten, den "Schnurranten", nicht nur bei den Ländlern frei nacheinander gespielt wurden, wichen um die Jahrhundertwende den auskomponierten zweiteiligen Stücken, denen oft ein Trio folgte. Die Tanzstücke tragen zunächst auch selten einen Namen oder auch den eines Autors. Es bleibt fast ein Wunder, woher die vielen Stücke stammten. Das Militär dürfte ein wichtiger Umschlagplatz gewesen sein, aber auch aus den Sammlungen der nachbarlichen Konkurrenz könnten verschiedene Tänze abgeschrieben worden sein. Der Schottisch mit Mollkadenzen im zweiten Teil, der in anderen Sammlungen "All,s druff", "Halts'n auf" oder "Hopsa Bärbele" genannt wird, ist ohne Titel ebenfalls in Happareute vertreten. 1893 allerdings finden sich in den Handschriften auch Titel und Autoren. Aus den wenigen Angaben von ortsansässigen Musikern - meist Dirigenten - wie Obermayer in Bergatreute, Schneider und Zodel in Röthenbach oder Glötter in Eisenharz - kann geschlossen werden, dass das Repertoire der Tanzmusikanten sich aus dem zusammensetzte, was im allgemein in der Region verbreitet war.

Konzertante Musik

Ist in Bergatreute der Übergang von der Kirchenmusik zur weltlichen Blasmusik auch instrumental gut zu belegen, so fehlen in Röthenbach Beispiele aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Begriff "Harmoniemusik" zur Gründungszeit 1840 weist allerdings auf eine ähnliche Entwicklung in Röthenbach hin. Die leiseren, gemischten Besetzungen mit Streichern und Bläsern bei der Tanz- und Konzertmusik wurden immer mehr von den technisch weiter entwickelten, lauteren Blechblasinstrumenten verdrängt. So zeigen die kompletten Sammlungen von Notenbüchern gegen 1900 die reine neunstimmige Blechmusik in folgender oder ähnlichen Besetzung wie auch das Bild der Kapelle: Trompete B alto, Flügelhorn, Es Trompa I, Es Trompa II, Baßtrompa I, Baßtrompa II, Althorn I, Bariton, Bombardon; die Ventilposaune kommt hier dazu wie bei anderen Kapellen, die kleinen Trommeln sind dagegen selten. Die Kringel nach den Mundstücken, die "Sauschwänzle", dienten zum Umstimmen der früher verwendeten C-Instrumente nach B.

Musikkapelle Röthenbach 1890 mit Thomas, Martin und Joseph Mader

Viele Unterhaltungsstücke sind auskomponierte Tänze. Die bekannten Gattungen werden als Konzertstücke vielfach mit Namen belegt, wie das "Hopsa Bärbele Halts'n auf!", das anonym bei der Tanzmusik verzeichnet ist, nun in voller Besetzung einen Namen besitzt. Auch Komponist und Arrangeur werden notiert.

Als Konzertstück wird eindeutig ausgewiesen: Consert Polonaise (Steiner). Bei den Ländlern verraten die Namen vielfach ihre Herkunft aus Bayern und Österreich, z. B.: Anna Tyrolienne (Horlbeck), Steirischer Ländler u. a. Bei den Walzern herrscht hier der Walzerkönig Johann Strauß um 1900 mit: Carnevals Botschaften, Gschichten aus dem Wienerwald, Wiener Blut (arr. Stock), Die Intimen (arr. Stock) u. a. Millöcker ist vertreten (Carlotta aus Gasparone), auch der Donau Wellen Walzer von Ivanovici. Als Mazurkas wurden gespielt: Frauen Polka Mazurka (Strauß, Joh.), Unter vier Augen (Faust) oder Ist denn kein Stuhl dafür meine Hulda.

Von den geradtaktigen Stücken bilden die Polkas eine wichtige Gattung: Mamsell Übermuth (Ziehrer), Die Königstrompeter (Gottlöber), Des Trompeters Gruß (Gleißner) u. v. a. Schottische gibt es wenig (7 mal): Ein Freundschafts Sträußchen (Horlbeck), aber auch ein Schottisch von Strauß. Im Galopptempo ging es los mit: Die Wilderer (Faust), Pfeifenclub Galopp (Zimmermann), Studenten Galopp (Starke) u. a. Im Konzertteil sind dazu 5 verschiedene Quadrillen aufgeführt, darunter die Pariser Leben Quadrille (mit fünf Touren) von Eduard Strauß.

Bei den 22 Potpourris wird die Liebe zu Bayern zum Ausdruck gebracht: Bayerische Volksmelodien, Mir san Landsleut, aber auch ein Potpourri über europäische Volkstänze stand auf dem Programm bis zu Beliebte Melodien aus Waffenschmied (Lortzing, arr. Stock) und Erinnerung an Richard Wagner. Beispiele für Liedbearbeitungen sind: Guten Morgen Herr Fischer, Nur einmal blüht im Jahr der Mai, Still ruht der See bis zu Wenn du noch eine Mutter hast. Arien aus den verschiedenen Opern der Zeit erklangen, von der Blasmusik gespielt: Arie aus Attila (Verdi), aus Don Juan (Mozart), aber auch weniger heute bekannte wie aus der Oper Antiochia von Mercadante. Und schließlich waren die Ouvertüren (22) sehr beliebt, z. B.: Alessandro Stradella (Flotow), Jakob und seine Söhne, Norma (Bellini) u. a.

Märsche als Mordsmusik"?17

Wenn heute zu einem Volkstanz als "Auftanz" Märsche gespielt werden, dann ist von dem kriegerischen Erbe dieser Musik kaum noch etwas zu ahnen. Doch ist es nicht wegzuleugnen, dass der Anlass zu Feldschritten und Marschmusik war, den Soldaten durch den gleichförmigen Rhythmus der Trommeln im Gleichschritt Kraft zu verleihen und Ängste zu verdecken. So waren Märsche eigentlich immer vorrangig Militärmusik. Ihre große Zahl in unseren Sammlungen steht gegenüber der anderen Musik deshalb auch in hohem Zusammenhang mit Nationalismus, der in der bekannten Ausprägung schließlich zu den beiden Weltkriegen geführt hatte. Selbst die kommunistische ehemalige DDR konnte ohne die preußische Marschtradition nicht auskommen.

461 Titel sind in Happareute aufgeführt. Noch friedlich klingt es im Marsch Auf der Wanderschaft und mit Ein Heller und ein Batzen, Grüße vom Allgäu, u. a. Fast solidarisch marschierte man schon für die Brüder in Zechen und Gruben. Man war dann schon Zu jeder Stunde marschbereit, schmettert den Radetzky Marsch für König Ludwig II und König Max, ja zum Heil dem Hause Wittelsbach. Es trommelte der Kaiser Barbarossa-Marsch für Kaiser Wilhelm, und Deutschland hielt Die Wacht am Rhein gegen die Franzosen, denen man am liebsten noch einmal den Sedan Marsch blasen würde. Mit Bomben und Granaten und anderem Waffenklang hoffte man auf den Siegesgruß, doch es blieben nur noch Die letzten Zehn vom Regiment. Beethovens Trauermarsch wurde sicher oft gespielt, wenn der Blutzoll im folgenden 1. Weltkrieg bezahlt werden musste. Doch hatte man aus diesen Erfahrungen wohl noch nicht alles gelernt, denn schon wieder erklang Marschmusik: Horst Wessel, Unter Hitlers Fahnen, Es zog ein Hitlermann hinaus, Deutschland über alles u. a. Die folgende zweite Tragödie ist ebenfalls bekannt.

Am beliebtesten allerdings waren in Röthenbach/Happareute die Märsche: Alte Kameraden, Bruder lustig (5 Nennungen), Hab's a Idee. Spitzenreiter war Gruß ans Liebchen (6x). Damit kann ja wohl belegt werden, dass die Allgäuer in Röthenbach doch auch aus den blutigen Bauernkriegen etwas gelernt und sich bei den späteren Auseinandersetzungen nicht mehr in die vorderste Reihe gestellt hatten.

Zusammenfassung

Mit vorliegender Notensammlung konnte nun ein detaillierteres Bild der reichen Musikkultur eines kleinen Allgäudorfes gezeichnet werden, das beharrlicher als in den Städten und größeren Dörfern in den tradierten Bereichen blieb. Ein besonderes Beispiel liefern dabei die Ländler im Zusammenhang mit dem Walzer. Die Thesen von Felix Hoerburger18 werden im Wesentlichen bestätigt. Dass in Röthenbach zu Beginn des 19. Jahrhunderts Tanzmusik ohne schriftliche Aufzeichnung gespielt wurde, kann so generell nicht angenommen werden. Bisher wurden dort und in anderen Ortschaften der Umgebung eben keine entsprechenden Notenbeispiele entdeckt, während Bergatreute sie liefert. Die Kirchenmusiker in Röthenbach, die wohl auch als Tanzmusiker aufspielten, kannten jedenfalls Noten.

Ländlerreihungen aus einem Notenbuch von Happareute (NR Ma 5, S. 4)

Die meist einstimmigen Aufzeichnungen der Tanzmusikanten in den Allgäuer Ortschaften und Weilern ab etwa 1850 dienten wohl als Gedächtnisstütze. Stark verschmutzte Ecken vom häufigen Umblättern und Flecken lassen aber vermuten, dass sie auch ins Wirtshaus mitgenommen und dort gespielt wurden. Der größte Teil der Melodien davon ist einstimmig notiert in verschiedenen "Parthien", den Reihungen "in C', "in F", "in B" o. a. Eine Begleitung der einfachen Kadenzen durch Bass und Nachschlaginstrumente war dazu ohne Notenkenntnis gut möglich. Die reichen Melodievarianten lieferten beim Auswendigspielen mit jeweiliger individuellen Gestaltung durch den Solisten die notwendige Abwechslung zum bekannten Rhythmus- und Akkordmuster der Begleitstimmen. Das Aufkommen von komplexeren Harmoniemustern und festen Reibungen der Stücke etwa nach dem Muster |:A:| |:B:| A und |:C:| als Trio verlangte die weitere Fixierung auch der Begleitinstrumente in Notenschrift gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damit wurde das improvisierende freie "aus dem Hut" Spielen eingeengt.

Die Entwicklung im bürgerlich geprägten Bergatreute zeigt etwas andere Züge. Dort sind frühe Tanzmusiknotierungen für alle Instrumente (Geige, Klarinette, 2 Hörner, Bass - die Instrumente aus der figuralen Kirchenmusik) schon ab 1830 in reicher Zahl vorhanden. Sie werden von den meist 5-stimmigen Bläserbesetzungen um 1850 abgelöst. Daneben existieren etwa ab 1850 ebenfalls einstimmige Notenhefte mit den bekannten "Parthien".

Eindeutige Strukturen sind schwer auszumachen. Manfred Beulecke" nimmt an, dass die neun- bis zwölfstimmige Blasmusik vor 100 Jahren auch bei Hochzeiten und Tanzveranstaltungen gespielt habe. Unser Material differenziert weiter. Diese damalige "große" Blechmusik war eher für die Großveranstaltungen (Feste und Feiern) zuständig. Es gab kleinere Musikbesetzungen von 4 - 5 Spielern, die speziell bis in die letzten 50er Jahre zum Tanz aufspielten.20 Die eigentliche "Stubenmusik" in den Bauern- und Wirtshausstuben mit Klarinette, Flügelhorn, Mund- oder Zieh-Harmonika, Gitarre, Zither, Hackbrett oder anderen Instrumenten schöpfte sicher auch aus den bekannten "Parthien". Die gedruckten Tanzmusiknoten aus dem 19. Jahrhundert (aus Bergatreute21 - in Röthenbach fehlen sie) machen zwar nur einen kleinen Teil der auf gefundenen Noten aus, dürften aber eine erheblich größere Rolle bei der Verbreitung der Melodien eingenommen haben als bisher angenommen wurde. Von den "Volkstänzen", den heute gepflegten Vorführtänzen, habe ich bis auf die "Francaise"22 keine aufgefunden.

Wenn viele der heutigen Tanzmusikgruppen gerade das freie Spiel nach einer Melodie mit einer einfachen Zweitstimme, Bass und Nachschlag wieder bevorzugen, spricht dies für den besonderen Wert dieses Musizierens. Das wiederentdeckte Notenmaterial lädt dazu ein, diese Schätze auf alten Instrumenten oder auch in anderer Besetzung wieder zum Erklingen zu bringen zur Freude der Musikanten, Tänzer und Zuhörer.

Anmerkungen
1 "Jetzt woll'n mir eins singen" - Handschriftliche Liedersammlung von 1845, 1879 und 1914 aus Happareute (bei Eglofs) im Westallgäu. In: Volksmusik in Bayern (Mitteilungsblatt der Voksmusikberatungstellen des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege e. V.) 1997, Heft 4, S. 57-65.
2 Martin Mader, geb. 8.12.1903, verstarb am 20. Februar 1996.
3 Die Musiksammlung des Alois Hoh in Bergatreute. In: Im Oberland, Beiträge aus Oberschwaben und dem Allgäu. Ravensburg (Landratsamt) 1996, Heft 2, S. 62-65.
4 Festschrift 1990, S. 11
5 "Gesang-Buch für Kolb Kristian und Joseph Anton Mader", 1845 und "Lieder Buch für Joseph Mader Happenreute 1879".
6 im Geschichts- und Heimatverein 88260 Eglofs/Argenbühl mit über 11 000 Musikstücken; verantwortlich: Wolfram Benz, Tel. 07566-1513, wolfram.benz@isnet-ev.de; http://home.isnet-ev.de/wbenz/archiv1.htm
7 Die Sammlung von Albert Martin umfasst dabei 980 Stücke in 3 Heften.
8 s. Benz, Wolfram: Aus dem Musikleben der Kapelle vor 100 Jahren. In: Festschrift: 150 Jahre Musikkapelle Eglofs. Argenbühl (Musikverein Eglofs) 1992, S. 50-57.
9 Ländler sind meist einzeln als 8-Takter dargestellt. In der Spielpraxis wurden mehrere aneinandergereiht. Der Begriff "schnurren" als Umschreibung dieser Aneinanderreihung ist bekannt.
10 Archiv Nr. NR Mt 1 (439 Ländler - wenige mit 16 Takten, 165 Walzer, 66 Mazurka, 63 Schottisch, 35 Polka, 30 Galopp), Sammlung Martin.
11 Untersuchungen aus Eglofs, Eisenharz, Wohmbrechts u. a. Orten im Westallgäu.
12 Benz, s. Anm. 1
13 In einem Marktoberdorfer Notenbüchle sind Zwiefache unter der Bezeichnung "Bairische Tänze" enthalten. Siehe bei: Manfred Beulecke: Thalhofer Notenbüchle. München 1978, S. 24-25.
14 Archiv Nr. NR Mt 1: "Berchtesgadner Plattler", "Flechauer Plattler", "Haidauer Plattler", "Miesbacher", "Neuhauser", "Schlierseer", "Tölzer", "Untersberger," 2 "Tanzlandler"; in Bergatreute finden sich 3 gedruckte Zwiefache als "Schleifer" bei Noten aus Augsburg (Verlag Böhm, um 1850)
15 Archiv Nr. NR Ma 11 (248 Walzer, 188 Ländler, 30 Mazurka, 30 Galopp, 13 Polka, 15 Schottisch).
16 Archiv Nr. NR Ma 23: 56 Tänze.
17 Fred K. Prieberg: Musik und Macht. Frankfurt am Main (Fischer Verl.) 1991.
18 Felix Hoerburger: Die handschriftlichen Notenbücher der bayrischen Bauernmusikanten. In: Volksmusikforschung, Aufsätze und Vorträge 1953-1984 über Volkstanz und instrumentale Volksmusik. Laaber, 1986, S. 166-173
ders.: Die instrumentale Volksmusik Bayerns im Spiegel der handschriftlichen Notenbücher. In: Volksmusik. Forschung und Pflege in Bayern, Erstes Seminar. München (Bayerischer Landesverein für Heimatpflege), 1978, S. 15 - 18.
19 Manfred Beulecke: Volksmusik im Allgäu vor 100 Jahren. in: Sänger- und Musikantenzeitung, 22. Jg. (1979), Heft 1, S. 3-9
20 Wolfram Benz: Tanz - Musik - Instrumente im Westallgäu. Versuch einer Einordnung von handschriftlichen Notenfunden ins bürgerliche und ländliche Musikleben seit dem 18. Jahrhundert. Eglofs (Geschichts- und Heimatverein) 1989.
21 Verlage Dennerlein, Würzburg; Böhm, Augsburg; Streck, München; Halter, Mosbach/Baden u.a.
22 s. Anm. 1

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