Die Musiksammlung des Alois Hoh (1912-1996)
aus Bergatreute
"Musik besitzt eine Eigenschaft des Himmels.
Sie ist grenzenlos und unausschöpfbar.
Sie hat die Macht, den Menschen zu verwandeln."
Bäckermeister und
Musiker Alois Hoh
mit Frau Johanna, geb. Herz,
im April 1994
|
Diese Sätze stammen von Alois
Hoh, geb. 25.7. 1912, Bäckermeister und Musiker aus Bergatreute.
Er hatte sie 1994 in der Festschrift zum Landesmusikfest des
Blasmusikverbands Baden-Württemberg in Wangen im Alter von fast 82
Jahren geschrieben. Und sein ganzes Leben selbst war geprägt von
dieser Macht der Musik. Für seine Verdienste um die Blasmusik
hatte er - neben vielen anderen Auszeichnungen - 1987 sogar das
Bundesverdienstkreuz erhalten. Denn Alois Hoh hatte 30 Jahre lang den
Musikverein Bergatreute geleitet und wurde 1990 als Ehrenvorstand noch
einmal besonders geehrt für 60 Jahre aktives Musizieren, das er
bis 1992 fortsetzen konnte. Er starb am 27. Februar 1996. |
Neben dieser Arbeit für das
öffentliche Musikleben in der Gemeinde Bergatreute und weit
darüber hinaus galt seine Kraft der Erhaltung der vielen alten
Instrumente, die er in aller Stille sorgsam hütete und pflegte und
mit denen er eigene Ausstellungen (1980 und 1990) gestaltete. So
manches Jubiläum von Musikkapellen im weiteren Umkreis
schöpfte aus seinem reichen Schatz an Blasinstrumenten, Noten und
Uniformen der Musiker. Er war gleichzeitig Chronist des stolzen
Vereins, der bis auf das Jahr 1790 zurückgeht, und verwaltete eine
riesige Sammlung an Fotos und Dokumenten früherer Musikgruppen.
Weniger sind seine Notenschätze bekannt, die in jahrelanger Arbeit
über EDV im Allgäu-Schwäbischen Archiv in Eglofs
aufbereitet sind, zur Zeit im Pfarrarchiv in Bergatreute aufbewahrt
werden und der Einsicht und Benutzung harren. Schlicht und trocken gibt
eine Zusammenfassung an:
Notensammlung von etwa 1800 bis 1920
(meist handschriftlich)
Bereich |
Nummern |
Hefte |
Einzelstücke |
Kirchenmusik |
71 |
386 |
252 |
Lieder |
78 |
113 |
464 |
Instrumentalmusik |
513 |
4713 |
5989 |
Summe |
662 |
5212 |
6705 |
Eng verbunden mit dieser Musik ist die
Geschichte der Flaschnerfamilie Obermayer, den Vorfahren von Alois Hoh,
die von ihm selbst erforscht und aufgeschrieben wurde. Seine Mutter,
Tochter von Anton Obermayer (III), hatte 1911 den Bäckermeister
Alois Hoh in Bergatreute (gest. 1978) geheiratet.
Gründung der Musikgesellschaft
Bergatreute 1790
Das Grollen der Französischen Revolution von 1789 war sicher noch
nicht in aller Stärke nach Bergatreute vorgedrungen, als im Jahre
1790 drei Frauen und neun Männer die Musikgesellschaft Bergatreute
gründeten. Vorstand und Dirigent war der erst 20jährige Anton
Obermayer. Sein Vater Josef, Wandermusikant und Flaschner, der aus
Oberbayern stammte, war in seinen Wanderjahren über eine Heirat in
Oberschwaben sesshaft geworden. Sein Sohn Anton, ebenfalls Flaschner,
spielte Klarinette oder nach Bedarf Violine. Er wurde in der damaligen
Besetzung von zwei Frauen mit Violinen begleitet. Drei Paukenspieler
werden genannt, dazu Waldhorn, Posaune, Trompete, Klarinette und eine
Harfe, die ebenfalls von einer Frau gespielt wurde. Die gemischte
Streicher-Bläser-Besetzung war bestimmend in der Kirchenmusik der
damaligen Zeit, was die ersten erhaltenen handgeschriebenen und
datierten Noten von 1810 bestätigen. Daneben wurde ebenso
weltliche Musik gepflegt, z.B. Ouvertüren zu Opern oder
Zwischenmusiken, Hymnen u.a.
Deutsche Tänze aus der
1.Hälfte des 19. Jahrhunderts, aus der Oper "Die Zauberflöte"
von
W. A. Mozart,
in der Besetzung: 2 Violinen, 2 Klarinetten, 2 Hörner, 2 Flöten
"e Picolo",
2 Fagotte, 2 Hörner, Pauken und Bass (NBH 38)
Kirchenmusik
Vier Chorstimmen werden dabei von zwei Violinen, Viola, zwei
Flöten, zwei Klarinetten, Pauke und Fundamentum (Orgel) begleitet.
Über die Noten erfahren wir gleichzeitig von dem 1773 in
Bergatreute geborenen Komponisten Alois Schmid, dessen rund 15
geistlichen Werke in ihrem schlichten klassischen Stil erhalten
blieben, der damals nicht nur die oberschwäbische
Kirchenmusik prägte. Rund 80 Kirchenkompositionen, meist in
ähnlicher Besetzung und hauptsächlich aus der ersten
Hälfte des letzten Jahrhunderts, sind verzeichnet. Der Einschnitt
durch die Säkularisation der Klöster und der Einfluss des
protestantischen Herrscherhauses in Stuttgart, das seit 1806 für
das katholische Oberschwaben zuständig war, blieben nicht ohne
Auswirkungen auch auf die Kirchenmusik: Die Orchesterbesetzung und die
Figuralmusik sollten als zu weltlich abgeschafft werden. Der nur von
der Orgel begleitete Kirchengesang erhielt den Vorzug.
"?Lieder,
begleitet mit folgenden Stimmen: Diskant und Alt,
Tenor und Bass, 2 Violinen, 2 Flöten, 2 Hörner,
Viola und Cello, Orgel", A. Schmid 1814 (NBK)
|
|
Tanz- und Unterhaltungsmusik
Ton:
"Blau-Blümchen", Rheinländer aus der Sammlung Hoh, Ochsenhaus'ner Volksmusikanten;
W. Buchmann
Neben der weltlichen Orchestermusik, in der Sammlung
ebenfalls reich vertreten, ist als besondere Rarität eine
große Anzahl hübscher Tanzmelodien für diese gemischte
Kirchenmusikbesetzung erhalten, die Auskunft über die Tänze
der damaligen Zeit geben. Die 1790 genannte Harfe ist zwar nie in einer
Partitur anzutreffen, dürfte jedoch auf dem Tanzboden in kleiner
Besetzung eine Rolle gespielt haben. Eine siebenstimmige Tanzmusik aus
diesem Bergatreuter Notenschatz erklang erstmals wieder 1994 beim
Landesmusikfest in Wangen: Polonaise, Walzer und Hopser. Anton
Obermayer arrangierte und komponierte vor allem in seinen letzten
Jahren bis 1840, als er nach 50 Jahren seinem Sohn Anton (geb. 1817)
den Dirigentenstab übergeben konnte.
"Partie IV, N 4,
Walzer pour Deux Violino, Deux Clarinetto, Flauto in D, F, Deux Cornu,
Basso"
geschrieben von Anton Obermayer (I) am 28. Januar 1834
Einer der 959
"Walzer", der aber den Ländlern zuzurechnen ist, weil einmal
nur achttaktig,
dann in der Form |:A:| |:B:| |:C:| einfacher Ländlerreihungen,
melodisch stark akkordbrechend -
überraschend und sehr selten im 3. Teil eine harmonische Mollwendung im
Vordersatz (NBH 14)
Von den insgesamt 4836
verzeichneten weltlichen Stücken stammen rund 2923 aus dem Bereich
des Tanzes. Sie wurden oft auch als Orchesterstücke bei Konzerten
aufgeführt. Allein die Zahlen der Aufstellung sind beeindruckend:
Deutscher Tanz |
36 |
|
Wollte
man z. B. alle Walzer der Sammlung ununterbrochen nacheinander spielen,
würde das ungefähr 40 Stunden, also fast zwei volle Tage,
dauern. Erstaunlich ist, dass zahlenmäßig die Kompositionen
von Lanner noch vor Strauß liegen in handschriftlichen Kopien mit
bis zu 20 Stimmen für Holz-, Blechbläser, Streicher und
Schlagwerk. Partituren gibt es bei diesen Besetzungen nicht. Kaum nach
Erscheinen in Wien sind die heute noch berühmten Walzer: Die Romantiker, Marien Walzer, Dampfwalzer, Amors
Flügel, Die nächtlichen Wanderer, Frohsinns Zepter,
Krönungswalzer (von Lanner) oder
Amors Pfeil, Die Berggeister, Frohsinn mein Ziel, Mittel gegen den Schlaf, Taglioni Walzer
(von Strauß) und andere schon vom Bergatreuter Salonorchester
gespielt worden. Dabei finden sich 24 Tanzstücke für kleinere
Orchester des Ravensburger Komponisten C. F. Munding und 6
Tanzstücke des Ravensburgers Erb. |
Ecossaise |
34 |
|
Galopp |
315 |
|
Hopser |
74 |
|
Hopswalzer |
7
|
|
Halbwalzer |
22
|
|
Ländler |
823
|
|
Mazurka |
142
|
|
Polka |
307
|
|
Polonaise |
52
|
|
Quadrille |
14
|
|
Schottisch |
138
|
|
Walzer |
959
|
|
Von Herzog Maximilian aus München (um 1880) sind handschriftlich vier Walzer dabei. Ein
Baienfurter Galopp, gespielt von einer 5stimmigen Tanzmusikbesetzung aus Blechbläsern und Klarinetten, heizte um 1880 den Tänzern ein;
Der Gruß an Bergatreute von Klotzbücher erklang um 1910.
Der Übergang zur Blasmusik
Die Verbannung der weltlichen Instrumente aus der Kirche hatte zur
Folge, dass Fagott, Oboe, Geigen und Pauken auf die Dachböden
wanderten. Denn beim Tanz und bei der weltlichen Musik wurden sie
wiederum von den kräftigeren Blechblasinstrumenten verdrängt,
die sich technisch mit ihren Ventilen schon vor 1850 immer weiter
entwickelt hatten. Auch Anton Obermayer schloss sich beim Ausbau der
Bläser der neuen Mode der "türkischen Musik" an, die das
Schlagwerk mit einbezog, das aus kleiner und großer Trommel,
Becken und Triangel bestand.
Noch konkurrierte das größere Salonorchester mit Violinen,
Viola und Cello mit der Bläsergruppe bei der Tanzmusik. Doch die
Waage neigte sich zugunsten der kräftigeren Blechbläser, die
immer weiter das Konzertprogramm mitgestalteten. Nur die Klarinetten
konnten sich noch halten. Während sich andernorts die
Musikgesellschaften gegen Ende des Jahrhunderts zu reinen
Blechblasorchestern reduzierten, blieb die Bergatreuter Kapelle eine
sogenannte Harmoniemusik mit Holzbläsern, Querflöten und
Schlagwerk; die Streicher waren gegen 1880 verschwunden.
Dieser Wandel geschah unter dem Anton Obermayer (II), der ab 1840 die
Leitung des Bergatreuter Orchesters von seinem Vater übernommen
hatte. Alois Hoh schrieb selbst von seinem Urgroßvater: "Anton
Obermayer war ein großer Künstler im Flaschner- und
Schlosserhandwerk. Wie heute im Gebirge, so waren früher bei uns
Kunstgrabkreuze aus Eisen oder Kupfer auf den Friedhöfen. Er war
zugleich ein großer Musiker und Kapellmeister mit über
30jähriger Tätigkeit von 1840 bis 1870." Er komponierte und
arrangierte neben seiner harten Arbeit im Handwerk Noten für seine
Kapelle. Als er kränklich wurde und am Ofen saß, war seine
Abwechslung, dass er "frisch und froh Violine und Klarinette spielte"
und den Rosenkranz betete. Er starb 1901 mit 84 Jahren.
Wieder
führte ein Sohn Anton Obermayer (III), der Großvater von
Alois Hoh, den Taktstock von 1870 bis 1913. Das Orchester setzte sich
um 1894 schon aus rund 30 Musikern zusammen. Aus dem Ersten Weltkrieg
wurde Anton Obermayer aus gesundheitlichen Gründen entlassen; er
war dann noch weitere 4 Jahre Musikdirigent und Musiklehrer. Ein reger
Briefwechsel mit dem Kapellmeister und Komponisten Georg Dinser aus
Mengen ist erhalten. Dieser schrieb und bearbeitete auch Stücke
für Jungbläser, um die sich Obermayer besonders
kümmerte. 13 Nummern mit 56 Stücken sind von Georg Dinser vom
Beginn unseres Jahrhunderts erhalten. |
Großvater Anton
Obermayer (III) um 1910
mit Jungbläsern
|
Das Repertoire bestand neben großen
Ouvertüren - vor allem von Mozart -, Potpourris und
Tanzstücken für großes Orchester in der Mehrzahl aus
Märschen, die insgesamt 681 Titel stellen. Schließlich war
man zur damaligen Zeit ausgesprochen patriotisch deutsch eingestellt.
Der Bogen spannte sich vom Bonifatius-Marsch, Yorkschen Marsch, Parade-Marsch,
König Karl, Deutscher Gruss, Für Vaterland und Freiheit, Wenn
der Kaiser ruft, bis zu
Unter dem Siegesbanner. Der Radetzky Marsch
ist gleich fünfmal vertreten und zeigt neben vielen anderen Titeln
die Vorliebe für Bayern und das benachbarte Österreich. Es
gibt allerdings auch einen Deutschen Klempner-Marsch. Sogar an Europa wurde schon gedacht mit dem Marsch
Heil Europa. Mit dem Schwabenland Marsch, Grüß Gott, du schönes Allgäu, Erinnerung an Waldburg war auch die eigene Region nicht vergessen.
"Wo man singt, da lass dich nieder"
Mit 438 Liedern stellt allein schon das überlieferte Liedgut in
der Sammlung Hoh einen besonderen Wert dar. Neben den geistlichen
Liedern bekamen die weltlichen in den Gesangvereinen immer
größere Bedeutung. Wie schon bei den Wiener Walzern, so war
Anton Obermayer (I) auch bei den Liedern Friedrich Silchers ebenfalls
sehr aktuell gewesen. Nachdem dieser 1826 seine ersten Volkslieder
für vierstimmigen Männerchor veröffentlicht hatte,
wurden sie am 17. Januar 1830 in Weingarten schon abgeschrieben und
wanderten so nach Bergatreute.
Neben den innigen Volksliedern, die Silcher aufbereitete, stammt der
größte Anteil der Lieder in Bergatreute aus dem Bereich der
"Kunstlieder im Volksmund". Diese wurden von Dichtern und Komponisten
im Volkston geschrieben. Silcher selbst mischte zu seinen
Volksliedsammlungen eigene Schöpfungen, und Gesangvereine
übernahmen sie gerne. Solche "volkstümlichen Lieder" sind zum
Beispiel "Am Bach, am Bach, im flüsternden Gras, da liegt der Knabe im Traum" ...
-, "Am schönsten klingt ein forsches Lied ... ", "Am schwarz und blauen Bande trag ich ein goldnes Kreuz ...
". Ausgesprochener Spitzenreiter war Mozarts "Brüder, reicht die Hand zum
Bunde",
da gleich fünf Beispiele verzeichnet sind. Die alten, anonymen
Volkslieder dagegen finden sich recht spärlich. Viele wurden wohl
von den Sammlern als moralisch anstößig betrachtet und
überhaupt nicht aufgeschrieben.
Dass die Liebe bei den Liedtexten trotzdem
hier thematisch den Schwerpunkt bildet, ist naheliegend. Sogar
Emanzipatorisches kam vor:
"Jetzt hab i schon drei Männer ghabt,
Oder:
zwei große und ein klein,
und wenn der dritt' mir sterben thät,
nähm ich mir wieder ein. ..." |
"Meister Mathes war a
Ma,
na den vergeß i nitt,
wenn der ins Wirthshaus ganga ist,
so ging i richtig mit." |
Ganz einfach lautet der Anfang eines anderen Liedes: "Falsch sind doch die Männer alle...
". Auch andere warnten - vergeblich: "Die Großmutter spricht: Ein Mannskuß sticht und beißt gleich der Schlange... ".
Dabei ist der bayrische Einfluss wie im Lied oben in Bergatreute auch
sonst zu spüren. Sogar rein bayrische Mundartlieder wurden
gesungen: A Blümi im Mieda, A Träpferl an der Nos'n oder Da oben auf der Alma, wos Gemsen noch gibt.
Schwäbische Texte außer den Silcherliedern sind selten. Die
Palette reicht bis zu Lebensweisheiten, ernsthaften und tiefen, aber
auch spaßigen und ironischen Inhalten: "Die Welt gleicht einer Bier-Budelle, wir Menschenkinder sind das Bier...
"
Schluss
Aus den wenigen Ausführungen an dieser Stelle ahnt man nur die
Bedeutung dieser über Generationen vererbten Sammlung. Die
Musikwissenschaft gewinnt aus ihr neue Erkenntnisse, und für das
Singen und Musizieren heute und in Zukunft kann aus diesem
Notenmaterial geschöpft werden. Erst, wenn die nun offengelegten
Schätze wieder zum Klingen kommen, kann sich der Wahlspruch des
Musikers erfüllen, den Alois Hoh in der obengenannten Festschrift
festgehalten hat:
"Trage bei zu anderer Freude, trage bei zu anderer
Glück, denn die Freude, die du gibst, kehrt ins eigne Herz
zurück." Ton: Alois Hoh erzählt aus seinem Leben Anmerkungen
Benz, W. (Hrsg.): Musik um 1840 aus Bergatreute, Eglofs 1994; 3 einfache Ländler, 2-stimmig mit Akkorden, Eglofs 1997.- Weitere
Notenpublikation aus der Sammlung Hoh: Schmid, C. (Hrsg.):
Musikalisches Ragout, Musig-Schür, CH-Adliswil, 1992 (3stimmige
Bläserstückchen nach drei Hornstimmen von 1844).
Meier, John: Kunstlieder im Volksmund, Halle 1906.
Sammlung von Böhme, F. M.: Volksthümliche Lieder
der Deutschen, Leipzig 1895. Archiv Nr. der Beispiele: NBHL 2,18. NBHL 72,8.
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