Georg Schneider (1878-1958)

von Albrecht Roth
  - zu einer kirchenmusikalischen Veranstaltung des Kirchenchors St. Martin am Ostermontag in der Stadtpfarrkirche Leutkirch - Schwäbische Zeitung, 14.4.1962

I.

Vor vier Jahren, am 11. April 1958, starb im hohen Alter von 80 Jahren Kirchenmusikdirektor Oberlehrer Georg Schneider aus Leutkirch. Mit ihm verlor die Stadt Leutkirch einen Bürger, dessen musikalische Persönlichkeit im süddeutschen Raum weit bekannt war. Seine kompositorische Begabung hat mehrere Jahrzehnte lang der engeren und weiteren Heimat eine große Zahl von Werken geschenkt, die auch heute noch zum Besten auf dem Gebiet der Kirchenmusik gezählt werden dürfen.

Georg Schneider entstammte einer Lehrerfamilie aus dem nahen Engerazhofen, wo er am 16. 10. 1878 geboren wurde. Nach seiner Ausbildung im Lehrerseminar Saulgau war der "Lehrgehilfe" - so nannte man um die Jahrhundertwende den frisch gebackenen Volksschullehrer - auf mehreren außerplanmäßigen Stellen (u. a. in Kißlegg und Stuttgart) tätig und lernte so die Heimat näher kennen. 

      

Georg Schneider

1908 ließ er sich in Untergröningen im Oberamt Gaildorf planmäßig anstellen, wo er sich auch verheiratete. In schweren Kriegszeiten, im Schützengraben, erhielt er das Dekret seiner Versetzung an die Kath. Volksschule in Leutkirch. 1919 übersiedelte er dann ins heimatliche Allgäu. Im neuerbauten Haus am Strampfelbergweg widmete er sich neben der Schularbeit ganz dem musikalischen Schaffen. Für seinen erkrankten Kollegen Berger übernahm er bald darauf die Stelle des Organisten an der Stadtpfarrkirche. Bis 1950 versah er dieses Amt meisterhaft mit der ihm selbstverständlichen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit. Noch viele Leutkircher erinnern sich an die brausenden, jubelnden oder geheimnisvollen Klänge, die Schneiders bedeutende Improvisationskunst der Orgel entlockte. 1937 schied Oberlehrer Schneider aus dem Staatsdienst aus. Sein Gesundheitszustand erlaubte es ihm nicht mehr, die schwere Arbeit in der Schulstube weiter zu versehen. Hart lastete auch die politische Entwicklung auf ihm - zuletzt war er noch der einzige Lehrer an der Katholischen Volksschule, bevor diese mit Schulbeginn 1937/38 in der Deutschen Volksschule aufging.

Bis zu seinem Tode lebte er nun zurückgezogen in seinem Heim am Hang über der Stadt, liebevoll betreut und umsorgt von seiner Gattin. Alle seine Kräfte stellte er in den Dienst der Musica Sacra, und in fleißigern Schaffen entstanden viele seiner bedeutenden Kompositionen. In Anerkennung dieser Leistungen und Verdienste für die katholische Kirchenmusik verlieh ihm der Bischof von Rottenburg den Titel eines Kirchenmusikdirektors.

II.

Die kompositorische Arbeit Georg Schneiders umfaßt geistliche und weltliche Musik. Neben verschiedenen Volksliedkompositionen für Männer-, Frauen- und Gemischten Chor stehen auch Bearbeitungen von bekannten Weisen für Gemischte Chöre (z. B. eine Bearbeitung des Schubert'schen "Lindenbaum" für 6- bis 8stimmigen Chor). Über ein Dutzend weltlicher Sololieder für eine Sopran-, Tenor- oder Baßstimme entstanden im Laufe der Jahre. Für Instrumentalisten sind einige Klavierwerke und mehrere Romanzen und Charakterstücke für Violine mit Klavierbegleitung gedacht. Zwei "Intermezzi" für Streichquartett beweisen, wie vielseitig Georg Schneiders musikalische Arbeit war. Auch an Werke für großes Orchester hat sich der Komponist mit Erfolg gewagt (Meditation in H, Mazurka).

Gewichtiger und tiefgründiger sind die geistlichen Werke, denen sich Georg Schneider im reiferen Alter ausschließlich zuwandte. Dem Herrn in der Musica Sacra zu dienen, war ihm Sinn und Aufgabe seiner schöpferischen Kraft. So entstanden 6 lateinische 4stimmige Messen für Gemischten Chor und Orgel, 2 A-capella Messen und eine Deutsche Singmesse für Chor und Orgel. Seine tiefgläubige Frömmigkeit fand hier bei der musikalischen Gestaltung der Meßtexte ihren innigsten Ausdruck. Schneider widmete seine Arbeit so der Mitte des katholischen Gottesdienstes, der hl. Opferfeier.

Am bekanntesten ist die "Herz-Jesu-Messe" in D; sie wurde schon bald nach ihrer Entstehung von verschiedenen Kirchenchören im süddeutschen Raum einstudiert und als Festmesse an hohen Feiertagen verwendet. Seit über 30 Jahren ist sie in ihrer Gestaltung lebendig und aussagekräftig geblieben und beweist damit ihren inneren Gehalt und Wert. 1948 wurde vom Liebfrauenchor Ravensburg unter der Leitung von Kirchenmusikdirektor Franz Frommlet die "Christkönigsmesse" uraufgeführt. Zu Ehren unseres Kirchenpatrons St. Martin schuf Schneider die "Martinsrnesse", die auch in einer Reihe anderer Orte Eingang fand. Kraftvoll und thematisch streng durchgeführt ist die "Missa Regina Pacis" in C, eine der reifsten Leistungen des Meisters. Die "Missa in B", bisher unbekannt, wird vom Kirchenchor St. Martin gegenwärtig einstudiert und im Rahmen der kirchenmusikalischen Feier am Ostermontag uraufgeführt.

Ebenfalls für die Feier des hl. Meßopfers schrieb der Komponist eine große Zahl von Gradualien (Gesänge zu Festen des Kirchenjahres), Predigt- und Kommunionliedern. Sie sind in der überwiegenden Mehrheit für Gemischten Chor und Orgel eingerichtet. Eine Ausnahme bildet der Lobgesang "Omnes gentes", der zu den gelungensten A-capella-Chören zählt. Unter den zahlreichen Marienliedern ist ein "Ave Maria" für Solosopran, Gemischten Chor und Orgel bekannt geworden. Eine Vertonung des Gebetes "0 meine Gebieterin" für Sopransolo und Orgel fällt durch geschicktes Ausdeuten des Textes in großen Melodiebögen auf. Auch dieses Werk steht auf dem Programm der Schneiderfeier am Ostermontag. Für Sopran- oder TenorsoIo sind auch Gesänge zur Trauung und zu anderen Anlässen vorhanden.

Als ein gewaltiges Gotteslob schuf Georg Schneider 1937 den "100. Psalm", ein größeres Chorwerk für 4- bis 6stimmigen Chor mit Orgel- und Orchesterbegleitung. Es wurde 1949 in Ravensburg unter KMD Frommlet uraufgeführt und bei festlichen Anlässen mehrfach wiederholt. In gewaltigen Steigerungen entwirft der Komponist ein Bild von der Macht des Schöpfers, dem alle Welt jauchzt und dient. Auch die Besucher des Kirchenkonzerts werden sich am Ostermontag dem Urteil der Fachwelt anschließen, das dieses Werk als eines der besten Schneiders bezeichnet.

Daß seine langjährige Tätigkeit als Organist ihren Niederschschlag in Orgelwerken fanden, ergibt sich von selbst.  Unter den verschiedenen umfangreichen Orgelkompositionen ragt die Introduktion und Fuge über das  Thema  "B a c h" 
heraus. Sie beweist am besten, wie intensiv sich Schneider mit der Kunst des großen Johannn Sebastian Bach beschäftigt hat. In einer 5stimmigen Fuge verarbeitet der Meister das Thema, das in mehreren Variationen und Umkehrungen zu verschiedenen Höhepunkten geführt wird. Eindrucksvoll ist auch die Toccata in G und eine feierliche Fantasie über das Thema des "Ite missa est".

 

III.

Schneiders musikalische Ausbildung war kurz und wenig umfassend. Er war, im ganzen gesehen, Autodidakt. Sein tonsetzerisches Können erwarb er sich im sorgfältigen und ausdauernden Selbststudium. Vorn Klavier her kommend, drängte es ihn - vor allem nach seiner Anstellung als Organist - immer mehr zur Orgel, der "Königin der Instrumente". Ihre urgewaltige  Kraft, ihre feierlichen Klänge und die Vielgestaltigkeit der Registrierung zogen ihn in ihren Bann. Auf der Orgel war er imstande, seine Gefühlswelt zu  interpretieren und seiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Das Studium der Orgelwerke Bachs und Regers zeigte ihm die Gesetzmäßigkeit, der echte Kunst unterliegen muß. Sein Schaffen entzündete sich aber vor allem am Werk des großen Organisten und Symphonikers Anton Bruckner. Die Klangwelt der symphonischen Werke des Meisters von St. Florian faszinierte ihn.  Mit großem Eifer und viel Begeisterung arbeitete er sich in dessen Kompositionen und seine Technik ein. Davon zeugen heute noch eine Anzahl von Skizzenheften, in denen wir große Teile der Symphonien als Bearbeitungen finden. Oft sind sie sicher als Nach- oder Zwischenspiele in der Stadtpfarrkirche erklungen.  Bruckner wurde so zum Vorbild seines Schaffens. Nicht, daß er versuchte, Bruckner billig nachzuahmen. Schneiders Werke zeigen unverkennbar persönliche Prägung, sie überraschen durch Originalität und die Fülle eigener Einfälle. Wie Bruckner und Reger aber liebt er große Steigerungen, die in seinem Messen und im 100. Psalm durch 6-bis 8stimmige Chorsätze und eine vielstimmige Orgelbegleitung erreicht werden. Ungewöhnlich zahlreich sind seine häufigen Wechsel der Tonart,  die beim Organisten ein scharfes Ohr und bewußte Mitarbeit voraussetzen, von den Chorsängern aber konzentriertes Mitdenken und sicheres Intervallsingen verlangen. Hier zeigt sich, daß Schneider vom instrumentalen Satz ausgeht und, dabei die Fähigkeit der menschlichen Stimme gelegentlich überschätzt. Das hat, nicht zu Unrecht, hin und wieder schon Kritik an seinen Werken ausgelöst. Seine Themen dagegen sind meist überaus sanglich. Sie werden im Verlauf der Kompositionen vielfältig verarbeitet. So taucht z. B. in der Herz- , Jesu-Messe, seiner ersten Messe, kurz nach der Uebersiedlung nach Leutkirch entstanden, das Leitmotiv nach dem bekanrten Kirchenlied in allen Teilen der Messe auf. Damit erreicht Schneider die innere und äußere Geschlossenheit seiner Werke.

Die Beschäftigung mit den barocken Formen spiegelt  sich in mehreren Fugen und Fugatos  wieder, die der Komponist in seinen Orgelwerken, Messen und  Motetten verwendet. Ein ausgezeichnetes Beispiel bietet das kraftvolle, chromatische Fugato des 100. Psalms.

Schneider war kein Neuerer, der um jeden Preis nach ungewohnten Formen und Klängen suchte. Ihm lag nichts daran, durch "modernes" Klangbild aufzufallen. Sein Ziel war es, echt und empfunden zu schreiben, nicht mathematisch zu konstruieren. Bescheiden und zurückgezogen schuf er seine Werke als wahren Ausdruck seines tiefgläubigen Wesens. Effekthascherei war ihm abhold. Zweifelnd an seiner eigenen Leistung vermied er es, seine Arbeiten einem größeren Kreis zugänglich zu machen. So erklärt sich, daß z.B, die "Christkönigsmesse" erst 14 Jahre und der "100. Psalm" erst 12 Jahre nach der Entstehung zur Aufführung gelangten.

Der Kirchenchor St. Martin singt schon seit Jahrzehnten eine Reihe der Werke Schneiders. Mit dem geplanten Konzert an Ostermontag hat er sich die Aufgabe gestellt, noch tiefer in das Schaffen des Meisters einzudringen und auch bisher unbekannte Werke der Öffentlichkeit vorzustellen.

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